Libretto Chronos/Gudrun Orlet
«Die Sprecher-Subjekte können ohne Vorgeschichte und ohne private Prägung herbeizitiert werden. Entfremdetes Treffen. Reisen an alle Orte, die möglich sind, werden möglich. Und. Machtlose Menschen sind ohnehin überall der Öffentlichkeit ausgesetzt.» (Marlene Streeruwitz. Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Dramatheorie. Reclam. München 2011. S. 544)
«Die letzte Form der Darstellung von Denken ist seine Überleitung in die Figur. Das Drama entsteht.» (Walter Benjamin. Bericht vom Drama (1925). Reclam. München 2011. S. 415)
Für die Freiheit. Für Menschen, die ihre Freiheit auch unter widrigen Umständen bewahren. (Gudrun Orlet)
Das Libretto ist der Abschluss einer Trilogie, die Gudrun Orlet mit dem Roman «Januarweiss» begann und mit dem Lyrikmanuskript «Littering» fortsetzte. Das Langgedicht «Littering», welches von der Gefahr mentaler Brüche und von nicht zu verortendem Grauen erzählt, ist die inhaltliche Basis des Librettos «Chronos». Unausgesprochen liegt dem Libretto wie den anderen Werken der Trilogie die Frage «Ist die Abwesenheit der Liebe das Böse?» zugrunde. Die Autorin findet ein Äquivalent im Wort «lichtlos» bei Paul Celan.
In ihren Werken beschäftigt sich Gudrun Orlet mit Manipulation und Machtausübung, die im Verborgenen geschehen und von geschlossenen Systemen geschützt werden. Die Verbrechen, die töten, ohne dass Blut fliesst, die Reminiszenz an Ingeborg Bachmann, die Gudrun Orlet in das Libretto einarbeitet.
Chronos versinnbildlicht in den Mythen der Orphiker den Ablauf, das Vergehen der Zeit, ein Gegensatz zur zeitlichen Wirklichkeit im Netz: Alles geschieht gleichzeitig ohne jemals ein Ende zu finden. Im Bühnenwerk «Chronos» wird die lineare Zeitstruktur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgelöst. Das Leben als ein immerwährendes Kontinuum hinein in alle zeitlichen Richtungen.
Die daraus entstehende Überlagerung verschiedener Zeit- und Erlebenshorizonte drängt in das Leben der Protagonisten. Ein Struktur- und Zeitvakuum entsteht, in dem neue Machtbegehren entstehen. Die Protagonisten erleben die Gleichzeitigkeit von Geschehnissen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dennoch sind im Libretto Kausalitäten erkennbar: die fragmentarische Identität «Soldat», die sich dieser in der Begegnung mit «Sie» aufbaut und er daraus für «Sie» die Identität Hedwig ableitet. Er glaubt «Sie» aus seiner Vergangenheit zu kennen. «Sie» jedoch hat keine Erinnerung, denn ihr ist nur die Gegenwart zugänglich und der kürzlich von ihr vollzogene Sprung in den Tod, der Beginn der Oper, als eine Reaktion, an deren Ursache sie sich nicht erinnern kann. Im dritten Akt werden Kausalitäten wirksam:
«Sie»: Flucht
«Er»: Wiedergutmachung
«Sprecher»: Übernahme und Fortsetzung der Destruktion.
Die Vielschichtigkeit, Gleichzeitigkeit und Überlagerung der Zeitebenen findet in der Poetik eine angemessene Sprachästhetik. Das Vertikale geht eine Verbindung mit dem Linearen ein und ein mehrdimensionaler Sprachkörper ist im Entstehen, der Perspektiven eröffnet, die über das linear Kausale hinausreichen.