Libretto Chronos/Gudrun Orlet
Die Protagonisten agieren wie aus einer Reihe an Vergangenheiten, die sich in einer Person über eine Identität entfalten wollen. Dabei sind Manipulation, Herrschaft und Machtausübung andauernde Themen.
«Er» lebt in den Fragmenten eines Soldatenlebens. «Er» schliesst an die Soldatenschritte vom Ende der Oper «Die Soldaten» von Alois Zimmermann an, die Oper, die im Grauen endet. In «Chronos» ist das Grauen andauernd wirkender Hintergrund, dem die Protagonisten entspringen und jede*r auf seine Weise entkommen will.
«Er», der im Hören ihrer Stimme glaubt sich in der Identität eines Soldaten wiederzufinden, wird von Zeitfragmenten aus Kriegstraumen heimgesucht. «Er» bewegt sich innerhalb fluoreszierende Identitätsmerkmale einer versprengten Vergangenheit nach mentalen Verwüstungen. Im Sehen eines Fotos und der «Sie» meint «Er» in ihr seine (frühere) Ehefrau und Liebe gefunden zu haben.
«Sie» ist entflohen, ihre Herkunft und Identität sind ihr selbst unbekannt. «Sie» kann sich im Verlauf der Oper weder verorten noch gewinnt sie an Identität. «Sie» entzieht sich zunächst den Zuschreibungen von «Er». «Sie» bemerkt, dass sie nicht tot ist und dennoch weder auf eine Identität noch auf ein Ich zurückgreifen kann. Auch fühlt «Sie» sich zunehmend von «Er» bedrängt. Gleichzeitig erkennt «Sie», dass sie in einer zeitlosen, identitätslosen Existenz lebt.
«Sie» willigt dem Realitätsangebot des «Er» ein, sie seien ein einstiges Ehepaar gewesen, das sich nun nach den Wirren des Krieges wieder findet. Weil «Sie» weiss, dass sie dem Grauen entkommen müssen und die Hoffnung hat, dass sie die Flucht zusammen besser bewältigen können, willigt sie seinem Realitätsangebot ein, was sich als weitere Gefahr herausstellt. Im 2. Akt/2. Szene unterliegen sie als Paar der Herrschaft zur Optimierung ihrer Körper und der Produktion neuer Biomasse. Ihre ohnehin auf ein Minimum reduzierte Selbstbestimmung ist durch die Unterwerfung wieder angegriffen.